Der Sohn Gottes, unbescholten und makellos, hing am Kreuz. Sein Körper war mit vielen Striemen bedeckt. Die Hände, die er so oft segnend ausgestreckt hatte, waren ans Holz genagelt. Die Füße, die unermüdlich Wege der Liebe gegangen waren, hatte man ans Kreuz geheftet. Das königliche Haupt war von der Dornenkrone verwundet, und die bebenden Lippen waren vor Schmerz verzogen. Die von seinem Haupt, seinen Händen und Füßen fallenden Blutstropfen, die Schmerzen, die seinen Körper quälten, und die unaussprechliche Seelenqual, als der Vater sein Antlitz vor ihm verbarg - alles, was er ertrug, spricht zu jedem Menschen und sagt: Für dich war der Sohn Gottes bereit, jene Schuldenlast zu tragen. Für dich durchbricht er die Macht des Todes und öffnet die Tore zum Paradies. Er, der den wütenden Wellen Einhalt gebot und über schäumende Wogen schritt, der Teufel erzittern ließ und Krankheiten verbannte, der den Blinden die Augen öffnete und den Toten neues Leben schenkte, opferte sich selbst am Kreuz, weil er dich liebt! Er, der Sündenträger, ertrug den Zorn göttlicher Gerechtigkeit und wurde um deinetwillen »zur Sünde gemacht« 2. Korinther 5,21b.
Schweigend warteten die Anwesenden auf das Ende dieses schrecklichen Geschehens. Die Sonne schien wieder, doch das Kreuz war noch in Dunkelheit gehüllt. Priester und Oberste blickten nach Jerusalem und bemerkten, wie sich die dunkle Wolke über der Stadt und der Ebene von Judäa zusammenzog. Die Sonne der Gerechtigkeit, das Licht der Welt, zog nun seine Strahlen von der einst bevorzugten Stadt Jerusalem zurück. Die zuckenden Blitze des Zornes Gottes waren nun gegen die dem Untergang geweihte Stadt gerichtet. Plötzlich lichtete sich das Dunkel um das Kreuz, und mit heller, klarer Stimme, die durch die ganze Schöpfung zu hallen schien, rief Jesus aus: »Es ist vollbracht!« Johannes 19,30b »Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!« Lukas 23,46a
Ein Licht umstrahlte das Kreuz, und das Angesicht des Erlösers leuchtete im Glanz der Herrlichkeit auf, hell wie die Sonne. Dann neigte er sein Haupt auf die Brust und verschied. Mitten in der schrecklichen Finsternis, scheinbar von Gott verlassen, hatte Christus den Leidenskelch der Menschheit bis zur Neige geleert. Er kannte den Charakter seines Vaters und verstand dessen Gerechtigkeit, Erbarmen und große Liebe. Im festen Glauben ruhte er in ihm, dem er stets freudig gehorcht hatte. Als er sein Leben nun demütig Gott anvertraute, schwand das Gefühl, er habe die Gunst seines Vaters verloren. Durch den Glauben wurde Christus Sieger.
Die Nacht des ersten Wochentages ging allmählich zu Ende. Es war um die dunkelste Stunde, kurz vor Tagesanbruch. Christus befand sich noch immer als Gefangener in seinem engen Grab. Der große Stein lag an seinem Platz, das römische Siegel war ungebrochen, und die römischen Soldaten hielten ihre Wache. Auch unsichtbare Wächter waren anwesend. Scharen böser Engel hatten sich an diesem Ort versammelt. Wäre es möglich gewesen, dann hätte der Fürst der Finsternis mit seinem Heer von Abgefallenen das Grab, das den Sohn Gottes festhielt, für immer versiegelt gehalten. Aber auch eine himmlische Schar umgab die Grabstätte. Engel, deren Stärke alles übertraf, bewachten das Grab und warteten darauf, den Fürsten des Lebens willkommen zu heißen.
»Plötzlich entstand ein gewaltiges Erdbeben; denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab.« Matthäus 28,2a Bekleidet mit der Rüstung Gottes, hatte dieser Engel die himmlischen Höfe verlassen. »Seine Gestalt leuchtete wie ein Blitz und sein Gewand war weiß wie Schnee. Die Wächter begannen vor Angst zu zittern und fielen wie tot zu Boden.« Matthäus 28,3.4
Es war derselbe Engel, der über den Hügeln von Bethlehem die Geburt von Christus verkündet hatte. Die Erde erzitterte, als er herannahte. Die Scharen der Finsternis flohen. Als er den Stein wegwälzte, schien es, als würde sich der Himmel zur Erde neigen. Die Soldaten sahen, wie er den Stein wie einen Kiesel zur Seite schob, und hörten, wie er mit lauter Stimme rief: »Du Sohn Gottes, komm heraus: Dein Vater ruft dich!« Nun sahen sie Jesus aus dem Grab hervorkommen und hörten, wie er über dem leeren Grab ausrief: »Ich bin die Auferstehung und das Leben.« Johannes 11,25a Als er in Majestät und Herrlichkeit erschien, verneigte sich die Engelschar in Anbetung vor dem Erlöser und begrüßte ihn mit Lobliedern.
Ein Erdbeben kennzeichnete die Stunde, als Christus sein Leben hingab, und ein weiteres Beben bezeugte den Augenblick, als er es triumphierend wieder aufnahm. Er, der den Tod und das Grab überwunden hatte, kam im Schritt eines Siegers aus dem Grab hervor. Dabei bebte die Erde, Blitze zuckten, und der Donner rollte. Wenn er wieder auf die Erde zurückkehrt, wird er »nicht nur die Erde, sondern auch den Himmel erschüttern« Hebräer 12,26b.
Durch unseren Erlöser wurde das Leben, das durch die Sünde verloren gegangen war, wiederhergestellt, denn er hat das Leben in sich selbst und kann beleben, wen er will. Er besitzt das Recht, Unsterblichkeit zu verleihen. Das Leben, das er als Mensch niedergelegt hatte, nahm er wieder auf, um es der Menschheit zu schenken. »Ich bin gekommen«, sagte er, »damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.« Johannes 10,10b »Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird nie mehr Durst haben. Ich gebe ihm Wasser, das in ihm zu einer Quelle wird, die bis ins ewige Leben weitersprudelt.« Johannes 4,14
Für den Gläubigen ist der Tod eine Kleinigkeit. Christus sprach davon, als wäre er nur ein kurzer Augenblick. »Ich sage euch: Wer mein Wort hält, der wird den Tod nicht sehen in Ewigkeit.« Johannes 8,51.52b Für die Christen ist der Tod nur ein Schlaf, ein Augenblick der Stille und der Dunkelheit. Ihr Leben ist verborgen mit Christus in Gott, und wenn »Christus, euer Leben, in seiner Herrlichkeit erscheint, wird sichtbar werden, dass ihr an seiner Herrlichkeit teilhabt« Kolosser 3,4.
Die Stimme, die vom Kreuz rief: »Es ist vollbracht!« Johannes 19,30b, wurde von den Toten gehört. Sie durchdrang die Mauern der Gräber und gebot den Schlafenden aufzustehen. So wird es auch sein, wenn die Stimme von Christus vom Himmel erschallen wird. Diese Stimme wird die Gräber durchdringen und sie entriegeln. Dann werden die Toten, die an Christus geglaubt haben, auferstehen. Bei der Auferstehung des Erlösers waren nur wenige Gräber geöffnet worden. Bei seiner Wiederkunft aber werden alle kostbaren Toten seine Stimme hören und zu herrlichem, unsterblichem Leben hervorkommen.
Auszüge aus dem Buch „Der Sieg der Liebe“ von Ellen G. White